Die eigene Behinderung nicht verstecken
Ich habe immer schon sehr allergisch darauf reagiert, wenn Menschen mich auf meine Behinderung reduzieren. Sie ist eine meiner Eigenschaften – sicherlich eine, die mich stark geprägt hat – aber es gibt viel mehr Dinge, die mich ausmachen, aus denen meine Persönlichkeit sich zusammensetzt und mit denen ich mich identifiziere. Meine Blindheit trage ich nicht vor mir her, die Auswirkungen meiner chronischen Erkrankung erst recht nicht. Diese Dinge thematisiere ich nur, wenn es unbedingt sein muss oder sich aus dem Kontext ergibt, sonst widme ich mich lieber relevanteren Themen.
Da Blindheit sich aber nicht verstecken lässt und ich das auch gar nicht für sinnvoll halte, kennzeichne ich mich. Wenn ich alleine unterwegs bin, ist durch meinen Langstock oder meine Hündin im Führgeschirr klar ersichtlich, dass ich nichts sehe. Wenn ich in Begleitung bin und meine Hilfsmittel daher eigentlich nicht brauche, trage ich den Stock aber trotzdem oft mit mir herum oder meine Hündin trägt ihre Kenndecke mit dem Blindenführhund-Emblem. Dann herrschen klare Verhältnisse und Jede*r Sehende sieht sofort, warum ich z.B. die Augen meines Gegenübers nicht immer richtig fokussiere, warum ich danebengreife, wenn mir jemand die Hand hinhält oder warum ich manchmal einfach desorientiert in der Gegend herumstehe. Es ist mir wichtig, dass Leute mich richtig einschätzen können. Dafür hilft es ungemein, wenn meine Blindheit offensichtlich ist und ich mich nicht ständig erklären muss. Ich will es nicht den Spekulationen der Anderen überlassen, was wohl mit mir los sein könnte.
Ich habe schon interessante Geschichten über mich gehört, wenn ich mich mal nicht an diesen Grundsatz gehalten habe. Auf meinem eigenen Abiball im Jahr 2000 z.B. fand ich, dass der Langstock nicht zu meinem Outfit passte, außerdem kannte ich den Raum, wo gefeiert wurde, und war ohnehin in Begleitung dort. Meine Mitschüler*innen kannten mich natürlich, aber viele hatten Eltern, Geschwister oder sonstigen Anhang dabei. Es gab also einen Haufen Leute, die mich nicht kannten. Nach dieser Feier bekam ich dann mit, dass über mich die wildesten Ideen kursiert waren. Menschen dachten, ich stände unter Drogen oder sei geistig verwirrt. Darauf, dass ich vielleicht einfach blind sein könnte, war anscheinend niemand gekommen – gefragt hatte aber auch Keine*r – vor allem nicht mich.
Spätestens seit dieser Erfahrung sind mir alle möglicherweise stigmatisierenden Auswirkungen von Kennzeichen meiner Blindheit völlig egal – Hauptsache, die Leute wissen, was Sache ist, und kommen nicht auf blödsinnige Ideen. Mir ist nun allerdings eine Auswirkung dessen aufgefallen, über die ich bisher nie nachgedacht hatte. Ich weiß, dass ich dazu neige, mir die Köpfe anderer Leute zu zerbrechen. Ich versuche, ihre Gedanken und Spekulationen zu antizipieren, um Fehlinterpretationen quasi schon im Vorhinein entgegenwirken zu können. Das hat den Effekt, dass ich jedes Mal, bevor ich in eine Situation gehe, darüber nachdenke, welche Kennzeichnung angemessen ist, was Leute denken könnten und wie ich darauf reagieren sollte. Genauso beschäftigt bin ich mit diesen Dingen in der Situation selbst. Für mich ist meine Behinderung also fast immer extrem präsent, weil ich mir ständig überlege, wie ich mich am Besten und am wenigsten Missverständlich präsentiere.
Und hier schließt sich der Kreis. Ich möchte von anderen Menschen nicht auf meine Behinderung reduziert werden, aber ich selbst reduziere mich viel mehr darauf, als ich bisher dachte. Ich gehe davon aus, dass meine Blindheit einen sehr großen Einfluss darauf hat, wie andere Menschen mich wahrnehmen und einschätzen. Deshalb beschäftige ich mich unterschwellig permanent damit, meine Außenwirkung unter dem Behinderungsaspekt zu tunen und zu optimieren – oder was ich eben dafür halte.
Eine wirkliche Lösungsstrategie für dieses Dilemma habe ich nicht. Es scheint auch hier gesamtgesellschaftlich noch ein weiter Weg vor uns zu liegen. Wenn eine Abweichung von der Norm wie eine Behinderung dermaßen viel Anlass zur Unsicherheit gibt, sind wir von echter Inklusion offensichtlich noch sehr weit entfernt. Inklusion heißt, dass Unterschiede normal sind. Wenn Menschen mit Behinderung das Gefühl hätten, einfach als Unterschiedliche unter Unterschiedlichen zu leben, müssten sie sich über ihre persönliche Unterschiedlichkeit zum Rest nicht so sehr den Kopf zerbrechen. Aber es gibt eben immernoch Unterschiede, die größer sind als die menschliche Flexibilität zu erlauben scheint. Die gesamte Gesellschaft muss lernen, dass Unterschiede allgegenwärtig sind. Kein Mensch ist wie ein anderer, egal, was sie unterscheidet. Jeder Mensch hat Stärken, Schwächen, Geheimnisse und Macken. Manche sind mehr, andere weniger einschränkend, aber Jede*r hat welche. Das muss sich herumsprechen, denn es würde Menschen wie mir einen großen Druck von den Schultern nehmen. Ich könnte aufhören, mir Gedanken über die Gedanken Anderer zu machen, weil die Anderen durch meine Abweichung von der Norm einfach nicht mehr verunsichert wären. Sich andauernd damit zu beschäftigen, anderen Menschen eine Unsicherheit zu nehmen, für die mensch selbst gar nicht verantwortlich ist, wird mit der Zeit nämlich sehr anstrengend.
(geschrieben von Leea)
Ich sehe es ebenso, dass meine Blindheit eine meiner vielen Eigenschaften ist, so wie beispielsweise meine schwarzen Haare oder meine Vorliebe für’s Stricken. Es ist also nicht das Thema, dass mich ständig beschäftigt. Lydiaswelt