Hochgradig sehbehindert ist wie jeden Tag Halloween
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Wir machen ein kleines Experiment zu Halloween
Stelle dir vor, du gehst die Straße entlang. Alle Menschen, die dir begegnen, sind verkleidet. Sie sind aufwändig kostümiert und tragen passende Masken. Manche sind geschminkt, manche verdecken ihre Gesichter gänzlich mit Zombiefratzen. Du hast keine Ahnung, wer dahintersteckt. Fremde Passanten? Kollegen? Deine Nachbarn? Alte Schulkameraden? Deine eigene Mutter? Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast, bis dein Gegenüber das Geheimnis lüftet.
Du versuchst, über Statur und die Art der Verkleidung zu erraten, ob es sich um Männer oder Frauen handelt, aber es ist nicht leicht. Was zur Hölle soll dieses fellbedeckte Etwas überhaupt darstellen?
Und jetzt stell dir vor, dass jeden Tag Halloween ist. Wann immer du deine Wohnung verlässt und dir andere begegnen, sind sie maskiert und du hast keine Chance, sie zu identifizieren. Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit, denn du bist einfach du – ohne Maske, ohne Kostüm. Sie können dich deutlich sehen und erkennen. Ja, du fühlst regelrecht, wie ihre Blicke dich erfassen, wie sie dich beobachten, wie sie jedes Detail an dir scannen. Sehen kannst du ihre Augen nicht, aber du weißt, dass sie deinen Schritten damit folgen. Jeder erkennt dich, aber du bist umgeben von Gesichtslosen.
Wie fühlst du dich dabei? Gruselig? Unsicher? Ängstlich? Läuft dir ein kalter Schauer über den Rücken, weil du dir nackt und hilflos unter den gefühlten Blicken vorkommst? Spürst du ein Quäntchen heiße Wut in dir hochkochen, weil alle so viel über dich wissen, während sie von sich nichts preisgeben? Willst du ihnen nicht allzu gerne die Masken herunterreißen, damit ihr endlich auf Augenhöhe seid? Damit du dich nicht mehr unterlegen und ausgeliefert fühlst?
Wach auf… wenn du kannst
Herzlich willkommen in meinem persönlichen Albtraum. In meiner düsteren Realität. Das erlebe ich jeden Tag mein Leben lang. Nein, paranoid bin ich nicht. Nur fast blind.
Das kann ganz schön beklemmend sein, oder? Für mich fühlt es sich jedenfalls oft so an. Zugegeben, ich denke nicht bei jedem Schritt so intensiv darüber nach, das darf ich auch nicht. Sonst würde ich verrückt werden. Ich habe gelernt, es zu akzeptieren. Meistens. Trotzdem ist es eine Tatsache, die mich am Sehbehindertsein sehr stört. Ich fühle mich ständig ausgeliefert, beobachtet, unsicher.
Ganz besonders, seit ich mich mit den gelben Armbinden kennzeichne. Sie zeigen allen anderen meine Behinderung, während ich gar nichts über sie weiß. Es tröstet mich kaum, dass nicht jeder die Bedeutung der drei schwarzen Punkte auf gelbem Grund kennt. Im Gegenteil. Wenn ich schon so viel von mir preisgebe, würde ich mir wünschen, dass diese Botschaft wenigstens ankommt. Und wirkt. Aber es ist eine fehlerhafte Nachricht. Weil so viel mitschwingt, das nicht dahin gehört. Weil Blinde gemeinhin nämlich nicht eigenständig lebensfähige Stubenhocker sind, die bestenfalls in Werkstätten arbeiten. Nur, dass ich gar nicht blind bin, einen Vollzeitjob habe, am liebsten draußen bin und… aber das ist eine andere Geschichte. Die passt nicht auf eine gelbe Armbinde mit drei schwarzen Punkten.
Was kann man tun? Ideen?
Einfach damit leben. Ändern kann ich es nicht. Natürlich habe ich gelernt, mit meinen anderen Sinnen zu erkennen. Der Werwolf dort trägt ein sehr feminines Parfum. Dieser Pirat da hat eine tiefe, männliche Stimme. Die gebeugte Hexe mit Stock bewegt sich wie eine alte Frau, ihr aufrechter Trollbegleiter folgt dem Bewegungsmuster eines durchtrainierten jungen Mannes.
Zum Glück senden wir mehr als nur visuell erkennbare Informationen aus und bloßes Sehen ist nur die halbe Miete. Wie Sherlock Holmes habe ich als fast Binde eine äußerst ausgefeilte Kombinationsgabe entwickelt. Ich habe gelernt, Muster zu lesen und auf kleine Details zu achten und das Wahrgenommene nicht nur als solches hinzunehmen, sondern die Bedeutung dahinter zu ergründen. Eine Stimme nicht nur zu hören, sondern die Stimmlage und das Gesagte zu erfassen. Aus vielen dieser Kleinigkeiten ergibt sich ein aussagekräftiges Gesamtbild, das mich manchmal sogar mehr wissen lässt, als den sehenden Beobachter.
Für meinen nicht ganz trägen Verstand und meine sensible Intuition bin ich sehr dankbar. Aber erliege nicht dem Trugschluss. Sie ersetzen das fehlende Augenlicht nicht. Mach dir da nichts vor. Unsere Welt funktioniert zu 90 % oder mehr über das Visuelle, sowohl in der Wahrnehmung als auch in der Kommunikation. Das ist ein Fakt. Mit meiner anders geschulten Wahrnehmung gelingt es mir, in dieser Welt, die nicht für mich gemacht ist, zu überleben, klarzukommen.
Was ein Sehender mit einem Blick erkennt, erarbeite ich mir über viele andere Wege. Ein bildlicher Vergleich wäre, dass für jeden Schritt, den ein visuell gesunder Mensch tut, ich eine kleine Wanderung unternehmen muss. Ob wir überhaupt am selben Ziel ankommen, ist dabei nie sicher. Damit möchte ich sagen, dass eine Sehbehinderung über alle Maßen anstrengend ist und dass kein Hilfsmittel, weder ein Langstock, noch ein Smartphone, noch irgendetwas anderes dieses Fehlen des Sehens vollständig ausgleichen kann. Wer das glaubt, erliegt einer Illusion oder macht sich etwas vor. Es sind alles Linderungen, Kompensationen, aber niemals ein Ausgleich. Vielleicht in einzelnen isolierten Situationen, aber niemals zur Gänze.
Wie wäre es mit Obstsalat? Löse dich vom falschen Vergleich
Einfach ein normales Leben führen, das wünschen sich viele Behinderte. Tut mir leid, es gibt kein normales Leben für uns, jedenfalls nicht, wenn man es mit Gutsehenden vergleicht. Unser Dasein entspricht nicht der Norm. Wir werden niemals ein Leben wie gesunde Menschen führen. Das ist, als würde man Äpfel und Birnen vergleichen. Aus einer Birne kannst du keinen Apfelsaft machen. Aus einem Apfel kein Birnenkompott. Sehr negativ? Keinesfalls, denn beides zusammen ergibt einen köstlichen Fruchtsalat. Aber nicht, wenn man so tut, als würden Birnen wie Äpfel schmecken. Oder als sollten sie das. Wieso akzeptieren wir nicht, dass beides nicht dasselbe ist und geben beiden Früchten einen Platz in der Schüssel? Wie soll man akzeptiert werden, wenn man selbst nicht akzeptiert, was man ist?
Für mich ist jeden Tag Halloween
Ich bin die, die mit gelben Armbinden im Scheinwerferlicht steht, geblendet von der Helligkeit und unfähig, über den kleinen Lichtkegel hinweg zu sehen. Die Welt um mich herum liegt im Dunkeln und nur, wer mit seinen ureigenen Geräuschen und Gerüchen zu mir ins Spotlight tritt, betritt auch die Bühne meiner physischen Welt, während mein Verstand über dem gefangenen Körper steht und die Weiten der Welt durchdringt.
Willst du mir eine Freude machen?
Dann ruf dir das nächste Mal, wenn du eine Straße entlang gehst oder du in der S-Bahn sitzt, doch unser kleines Halloween-Experiment in Gedanken. Stelle dir vor, dass alle um dich herum unkenntlich und gesichtslos sind. Was mir das bringt? Mehr, als du denkst, denn du wirst fühlen, was ich täglich fühle und durch dieses emotionale Nachempfinden meiner Situation wird dein Horizont weiter. Das ist toll für dich und für mich. Wer weiß, vielleicht wagst du es dann eines Tages, einem behinderten Menschen, den du triffst, deine Hilfe anzubieten. Und zwar nicht, weil du denkst, das gehöre sich oder weil du mal gelesen hast, dass man Blinden über die Straße helfen soll. Nein, wenn du wirklich verstanden hast, worum es geht, was es bedeutet, behindert zu sein, kannst du ehrlich und aufrichtig helfen. Und dein Verständnis für Menschen in anderen Situationen – losgelöst von Handicaps – ist wahres Gold für die Menschheit. Und wenn jeder seine Fähigkeit zur Empathie schult und lernt, die Perspektive zu wechseln, dann wird dir ebenfalls jemand zur Seite stehen, wenn du eine helfende Hand benötigst.
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Sag mal, wie hast du dich bei diesem kleinen Experiment gefühlt? Wie ging es dir dabei? Was hast du gedacht? Hast du mal etwas Vergleichbares erlebt? Über deinen Kommentar würde ich mich herzlich freuen, schließlich hast du meine Gedanken gelesen und jetzt würde ich gerne deine kennenlernen!