Buchtipp: “Jenseits der Grenzen” von Wolfgang Fasser und Massimo Orlandi
Jetzt, wo ich meine Freunde nicht persönlich treffen kann, widme ich mich mal wieder vermehrt dem Lesen. Eines dieser gelesenen Bücher, “Jenseits der Grenzen” von Wolfgang Fasser, hat mich besonders inspiriert.
Wolfganf Fasser wächst in Glarus, einem kleinen Dorf in der Schweiz, auf. Mit zehn Jahren wird bei ihm die Augenkrankheit Ritinitis Pigmentosa diagnostiziert, wodurch sein Sehvermögen in den nächsten Jahren immer mehr abnimmt. Trotzdem schränken ihn seine Eltern nie ein, sondern lassen ihm weiterhin alle Freiheiten, sodass er selbst seine neue Welt erkunden und deren Grenzen kennenlernen kann. Er probiert diverse Berufe aus, bevor er die Ausbildung als Physiotherapeut komplett durchzieht und erfolgreich abschließt, wenige Tage vor der vollständigen Erblindung.
Wolfgang Fasser lässt sich von seiner Blindheit nicht unterkriegen, gibt alles, um der sehenden “Konkurrenz” zu zeigen, dass dieser Beruf auch für Blinde hervorragend geeignet ist. Bald ist er allseits angesehen, lehrt am Universitätsspital Zürich und braucht sich im Fall einer Versetzung nur nach den bestbezahlten Jobs umzusehen. Als er aber nach acht Jahren Berufserfahrung sein gewohntes Umfeld hinter sich lässt und – trotz aller Bedenken seines Kollegiums und seines Bekanntenkreises – nur mit einem Rucksack, seinem Blindenführhund und einem Einweg-Flugticket nach Lesotho aufbricht, um in einem dortigen Spital die Physiotherapie-Abteilung aufzubauen, will er seine Behandlungen so kostengünstig und unbürokratisch wie möglich anbieten. Ohne jegliche Technik, nur mit seinen Händen und seinem Fachwissen behandelt er seine Patienten auf einer Veranda, die Behandlungszimmer, Treffpunkt und Wartezimmer in einem ist, und ist manchmal tagelang zu Fuß unterwegs, um kranke Menschen zu Hause zu besuchen.
Drei Jahre lang geht er dieser sehr erfüllenden Arbeit nach, bis er sich in Quorle, einem kleinen italienischen Dorf, niederlässt. Dort baut er sich mit einem vierjährigen, berufsbegleitenden Studium der Musiktherapie ein neues Standbein auf und gründet mit “Il trillo”, ein Zentrum für musikalische Improvisation, in dem er vor allem Kinder mit Behinderung musiktherapeutisch betreut, dadurch weitreichende Entwicklungen anstoßen und fördern kann und ihnen hilft, ihre Potenziale zu entdecken, damit sie sich selbst, ihrem Umfeld und dem Leben mit mehr Freude und Vertrauen begegnen können.
Einige Jahre später bringt ihn seine Liebe zur Natur und sein Interesse an verschiedensten religiösen und spirituellen Glaubensrichtungen und Ritualen auf die Idee, ein Familienzentrum aufzubauen, in dem Menschen in Einfachheit, Gemeinschaft, intensiven Naturerfahrungen und bewusster Stille sich und die Umwelt neu erleben können.
Inzwischen wurde das “Il trillo” von jüngeren Musiktherapeuten übernommen und auch seine Physiotherapie-Abteilung in Lesotho wird vor Ort weitergeführt. Einmal im Jahr reist er noch dorthin, um Nachwuchs-Physiotherapeuten für die Arbeit im Spital auszubilden, und führt ansonsten die Besucherinnen und Besucher des Familienzentrums aufgrund seines immer schlechter werdenden Gehörs nun nicht mehr in die Welt der Klänge, sondern in die Welt der Stille.
Die Erziehungsmethode seiner Eltern, der Umgang mit einer fortschreitenden Augenkrankheit, Alltagserlebnisse, die jede blinde Person so oder so ähnlich kennt, die Wirkung der Musik, die Kultur und Mentalität Lesothos, die Faszination der Natur, Gedanken zu Glauben und Spiritualität – das handliche und inhaltlich sehr übersichtliche Buch ist natürlich einerseits die Biographie einer Person, die sich trotz aller Herausforderungen und Gegenargumente nie von ihrem Weg abbringen lässt, aber vor allem ein kleiner Ratgeber, gespickt mit Impulsen und Gedanken zur Gestaltung des eigenen Lebens und thematisch extrem vielseitig und breit gefächert. Jedes Kapitel vermittelt eine Botschaft, die ganz persönlich interpretiert werden kann. Mich hat dieses Buch unglaublich fasziniert. Zum einen, weil sich unsere Grundhaltungen extrem ähnlich sind und ich nicht selten das Gefühl hatte, dass er – mehr oder weniger detailliert – von meinen Wünschen und Träumen erzählt: Ins Ausland reisen, mich sozial engagieren, mit Musik Freude schenken … Gleichzeitig zeigt das Buch mir, wo ich meinen Lebensweg hätte selbstbestimmter gehen können, dass die Blindheit (bzw. eine Behinderung im Allgemeinen) aber ein kleineres Hindernis darstellt, als man vielleicht denkt und man extrem viel schaffen und erreichen kann, wenn man nur will, fest davon überzeugt ist und sich selbst akzeptiert und vertraut. Das Buch ermöglicht dem Leser, viele Dinge ganz neu zu entddecken – eben jenseits der Grenzen.
Übrigens: Neben dem Buch gibt es auch einen Dokumentarfilm namens “Im Garten der Klänge”, für den Wolfgang Fasser über mehrere Jahre hinweg bei seiner Tätigkeit als Musiktherapeut begleitet wurde. Durch diesen Film lernte ich die Wirkungsweise der Musik kennen, begann, mich näher damit zu beschäftigen und durfte in den folgenden Jahren mich bis heute prägende Erfahrungen in diesem Bereich machen. Für alle, die für knapp 1 1/2 Stunden in unglaubliche Dimensionen der Musik sowie in spannende und doch eigentlich sehr alltägliche Klangwelten eintauchen wollen, ist dieser Film ein Muss – gerade auch für jene, die nicht blind sind!