Antje, die sehbehinderte Dozentin
Mein Name ist Antje van Elsbergen, ich bin 51 Jahre alt, arbeite an der Universität in Marburg, wo ich auch lebe. Durch einen angeborenen grauen Star habe ich eine starke Sehbehinderung, ich sehe zwischen 7 und 10%, verwende bisweilen einen Blindenstock, in vertrauter Umgebung kann ich darauf verzichten. In meiner sehr knappen Freizeit treibe ich Sport wie Indoor-Cycling, Tranpolinspringen und Laufen, mache und höre sehr viel Musik, lese und ziehe mindestens einmal die Woche mit meinen zahlreichen Freundinnen und Freunden um die Häuser. Schade, dass der Tag nur 24 Stunden hat. Ich reise mindenstens einmal im Jahr nach Griechenland, dort liegen meine privaten wie meine wissenschaftlichen Interessen, denn durch meine Sprachkompetenzen komme ich sehr nah an die Lebenswelten der Menschen.
An der Universität arbeite ich inzwischen seit mehr als 25 Jahre, zuerst als studentische, dann als wissenschaftliche Hilfskraft, vor und nach meiner Promotion hatte ich eine halbe Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin, die dann vor 8 Jahren in eine volle unbefristete Stelle umgewandelt wurde. Das ist inzwischen fast ein Sechser im Lotto, und genauso fühlt es sich für mich noch immer an. Ich habe in Marburg die Fächer Europäische Ethnologie und Kultur- und Sozialanthropologie studiert, weil diese Fächer meine zahlreichen Interessen zusammenfassten. Ein bisschen Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft, Religionswissenschaft, Pädagogik und vor allem andere fremde Kulturen und ihre Denkweisen kennenzulernen, das war es, was mich am meisten reizte. Ich hatte wohl schon damals zu Studienbeginn die Hoffnung zu verstehen, warum manche Menschen anders sind als andere, warum gut Sehende die schlecht Sehenden ausgrenzen, was für Motive es sind, die zu Diskriminierung oder gar Abwehr führen und welche anderen Formen des Umgangs miteinander es noch gibt auf der Welt.
Obwohl ich in Marburg studiert habe, war ich vorher nicht dort in der Schule, wenn dieser Verdacht auch naheliegt. Ich machte mein Abitur an einem kleinen Privatgymnasium mit sehr überschaubaren Klassen und einer exzellenten Einzelbetreuung, die sehr viel Entfaltungsspielraum zuließ. Es war mein Griechischlehrer, der mir riet, Ethnologie zu studieren, ich selbst kannte dieses Fach nicht. Er aber schätzte meine Fähigkeiten damals schon richtig ein, und ich habe trotz aller Mühen und dem Einzelkämpfertum nie bereut, dieses Studienfach mit unsicheren Berufschancen ergriffen zu haben.
Schon während des Studiums habe ich festgestellt, dass ich mich für Projektmanagement, Beratung von Studierenden und natürlich für die Wissenschaft interessiere. So habe ich während meiner Zeit als Doktorandin angefangen, mich im Bereich des Wissenschaftsmanagements zu professionalisieren. Das war die Zeit, als die Universitäten von Diplom und Magister auf Bachelor und Master umgestellt haben, und ich bemerkte bald, dass ich ein gewisses Talent besaß, diese Umstellung aktiv mitzugestalten. Ich bin aufgrund meiner Kommunikationsstärke eine ausgezeichnete Netzwerkerin, kenne unsere Hausmeister ebenso gut wie die Vizepräsidentin der Universität, und ich interessiere mich für beide gleichermaßen.
Als sehbehinderte Dozentin in einem Hörsaal mit 90 Studierenden zu stehen, ist kein Vergnügen. Ebenso wenig bei einer Konferenz Kolleg_innen nicht wieder zu erkennen, in Sitzungen nicht zu wissen, ob ich aufgerufen werde, bei Fortbildungen immer wieder vorher auf Barrierefreiheit aufmerksam machen zu müssen, auf dem Flur die engsten Kolleginnen nicht zu erkennen, wenn sie stumm an mir vorbeilaufen, beim Sommerfest inmitten einer Menge von Menschen nicht die bekannten Gesichter zu erspähen, auf Exkursionen mit Langstock die irritierten und vielleicht mitleidigen Blicke von Studierenden zu ertragen und sich durch erhöhte Kompetenz und Professionalität immer wieder den Respekt zu erobern… Es gibt in meinem Berufsalltag unzählige Situationen, in denen ich an meine Grenzen stoße.
Der einzige Weg, der sich für mich als gangbar erweist, ist meine Akzeptanz und die Kommunikation über meine Unsicherheit. Ich befinde mich dauerhaft in einem normal sehenden Umfeld und muss mich seinen Bedingungen anpassen. Daher kann ich aber alle Unsicherheiten von jungen Menschen wie Studierenden gut verstehen, mich in sie hineinfühlen und mich gleichzeitig nicht über sie stellen. Ich versuche meine naturgegebene durch die Sehbehinderung verursachte Unsicherheit als Stärke zu begreifen, die mich empathischer für die Ängste anderer macht. Ich habe akzeptiert, dass ich zu keiner Welt wirklich gehöre, nicht zu derjenigen der Sehenden und nicht zu derjenigen der sehbehinderten und blinden Community, denn diese ist in meinem Alltag nicht vorhanden.
Ich finde es heute leichter als vor zehn Jahren, in der ersten Seminarsitzung auf meine geringe Sehkraft hinzuweisen und die Studierenden zu bitten, deutlich mit dem Arm zu winken, damit sie nicht mit aufzeigendem Finger bis zum Sanktnimmerleinstag ums Rederecht bitten müssen. Aber richtig leicht wird es mir nie fallen, glaube ich.
Was ich tatsächlich als wichtigste Eigenschaft betrachte, möchte jemand einen Beruf wie den meinen ergreifen, ist eine hohe Selbstdisziplin und die Bereitschaft, sehr viel mehr als 40 Wochenstunden zu arbeiten. Denn natürlich ist nicht annähernd ausreichend Literatur barrierefrei, wenn das heute auch kein großes Problem mehr darstellen dürfte. Ich habe einen wunderbaren Assistenten vom LWV finanziert, der mir Literatur so aufbereitet, dass ich sie leicht lesen kann, der alle Eintragungen in EXCEL und SAP vornehmen kann, der auch meine Texte auf Webseiten stellt. Alles, was mit schwierigen Programmen im Internet zusammenhängt, kann ich problemlos an ihn weitergeben, so dass ich „nur“ meinen fachlichen und wissenschaftlichen Arbeitsbereich gestalten muss. Aber die Bildschirmarbeit ist lang und anstrengend, und es gibt natürlich immer wieder neue Hürden zu passieren. Aber ich suche diese Herausforderungen, lerne für mein Leben gern und ich bin immer wieder neugierig auf Menschen. Daneben habe ich meine Forschungsinteressen und bin daher auch intellektuell immer so gefordert, dass ich die Anstrengungen dafür in Kauf nehmen kann. Ich bin sehr dankbar, meinen Beruf zu einem großen Teil als Berufung zu empfinden, in dem ich so viel Gestaltungsspielraum habe und meinen Ideen Ausdruck verleihen kann.